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Der Schriftsteller Hippel aus Gerdauen

„Ein räthselhafter Sphinx“, eine skurrile Doppelnatur. Sein Streben nach geistiger Unabhängigkeit machte ihn zum Einzelgänger in seiner Zeit.

 Zu der Zeit, als das Kuriosum der schwimmenden Insel langsam anfing zu vergehen, wuchs in Gerdauen ein Junge mit außerordentlichen Gaben heran, der sich zu einem der ungewöhnlichsten Geister seiner Zeit entwickeln und den Kant bewundernd einen „Centralkopf“ nennen sollte. Am 31. Januar 1741 wurde Theodor Gottlieb Hippel in Gerdauen als Sohn des Schuldirektors geboren.
Durch seinen Vater, einen hochgebildeten Mann, erhielt er eine Ausbildung, die ihn schon in seiner Kindheit mit den großen Werken der abendländischen Geistesgeschichte vertraut machte, und Lernen, geistige Aufnahme und literarische Verarbeitung blieben sein Leben lang seine ureigenen Beschäftigungen.
 Am liebsten lernte er in der Natur, im Garten seines Gerdauener Elternhauses, den er, wie er später schrieb, „für Gottes Tempel hielt“. Hier versuchte er, es den summenden Bienen gleichzutun, seinen „Collegen“, indem er geistige Nahrung in den Bienenstock seines Verstandes trug. Es waren dies vor allem die Werke der von ihm verehrten Seneca, Plutarch und Plinius, die er sogar in kindlichen „Bücherspielen“ anstelle von Spielzeugfiguren gegeneinander antreten und im Wettstreit disputieren ließ.
 Hippels Vater unterrichtete den Sohn in Lateinisch, Griechisch und Hebräisch, außerdem in Geschichte und Geografie, seinen Steckenpferden. Am Unterricht des jungen Theodor Gottlieb nahmen zuerst auch sein zwei Jahre jüngerer Bruder Gotthard Friedrich und mehrere junge Edelleute teil. Da diese aber nicht Schritt halten konnten mit den Fortschritten Theodor Gottliebs, bekam der Knabe schließlich Einzelunterricht. In dieser persönlichen Förderung sah er später die Ursache für seine eigenständige Entwicklung und sein mutiges Selbstdenken. Den allgemein üblichen Gruppenunterricht hingegen machte er verantwortlich für die geringe Selbstachtung der Menschen und ihren Hang, fremde Meinungen zu übernehmen, ihnen beizutreten: „Wäre nicht mancher Tyranney und manchem Tyrannen gesteuert worden, wenn die meisten Menschen das Herz hätten, selbst eine Meynung zu haben, und wenn sie nicht zum Beytreten der Meynung anderer erzogen würden?“ Sein Streben nach geistiger Unabhängigkeit machte Hippel unter seinen Altersgenossen zu einem Einzelgänger, was ihn aber nicht verdross, er sah sich als ein Sonntagskind unter Alltagskindern. Zu seiner geistigen Anregung und zum Gedankenaustausch gründete er in jugendlicher Schwärmerei eine Gerdauener „Akademie der Wissenschaften“, bestehend aus fünf Mitgliedern seines Alters, die sich auf dem Dachboden versammelten, „ohne Lehrstühle sich behalfen“ und sich ihre Aufsätze vorlasen.
 Bei der einzigen schlechten Erinnerung an seine Gerdauener Kindheit und Jugend spielen die Grafen von Schlieben eine Rolle, über die Hippel sonst nur Gutes zu sagen weiß: „Die Grafen Schlieben sind edel und bieder, und gehören ohne Widerrede zu den reichsten und gutdenkendsten Cavalieren im Lande. Einer von ihnen, der Minister und Oberburggraf ward, hat mich besonders mit vieler Güte und Aufmerksamkeit behandelt, und ich habe frohe Tage in seinem gastfreyen Hause gelebt!“ Graf Adam Friedrich von Schlieben war verheiratet mit Hedwig Louise, der Tochter des Prinzen Friedrich II. von Homburg, der durch das nach ihm betitelte Drama von Kleist zu einer Gestalt der Weltliteratur wurde. Hedwig Louise entstammte der zweiten Ehe des Prinzen von Homburg (Landgraf von Hessen) mit Louise Elisabeth von Kurland und lebte wahrscheinlich über vierzig Jahre in Gerdauen.
 Die von ihr veranstalteten Feste, besonders aus Anlass fürstlicher Besuche, waren Hippel, der daran teilnehmen musste, ein Gräuel, ungeachtet dessen, dass die Prinzessin ihm besonders zugetan war: „Indeß kann ich nicht läugnen, daß ich mir die Gnade der Prinzeßin, wodurch sie mich in meiner ersten Jugend so beyspiellos auszeichnete, ganz wohl bis auf den einzigen Umstand gefallen ließ, daß sie mich mit ihrer Gesellschaftsfräulein paarte, um über meine Verlegenheit und kindischen Antworten zu lachen.“ Jenes scherzhafte Hochzeitspielen auf den Schlossfesten verletzte Hippel sehr: „Fast habe ich Lust zu behaupten, daß jener Braut= und Bräutigamscherz mit dazu beygetragen haben könne, daß ich mich zum ehelosen Stand bekenne.“ An diesen Scherzen und Neckereien war Hippels Mutter nicht ganz unbeteiligt, die er als würdig und edel beschreibt, allerdings mit einer Tendenz zu ausartendem Witz und Leichtsinn, den sie anschließend mit Selbstvorwürfen und Gram büßte. In dem mütterlichen Hang, ihre Gerdauener Nachbarn zu karikieren, sieht Hippel den Ursprung für seine satirische Ader, die ihm im späteren Leben literarischen Ruhm einbrachte.
 In seinem fünfzehnten Lebensjahr, 1756, zog Hippel von Gerdauen nach Königsberg auf die Universität und studierte erst Theologie, später Jurisprudenz. 1760/61 unternahm er eine Russlandreise, zu der ihn ein Freund eingeladen hatte, der in offiziellem Auftrag an den Zarenhof reiste. Diese Berührung mit der großen Welt stachelte Hippels Ehrgeiz an und veranlasste ihn, zurückgekehrt nach Königsberg, planvoll seine Karriere anzugehen, die ihn schließlich zum Oberbürgermeister von Königsberg machte und die Titel des Stadtpräsidenten und Geheimen Kriegsrats einbrachte. Auch wurde ihm gestattet, den früheren Familienadel wieder aufleben zu lassen.
 Während dieser Zeit entwickelte sich Hippels Freundschaft mit Kant und Hamann, zwei führenden Köpfen der Epoche, die seinen eigenwilligen Geist und seine umfassende Bildung zu schätzen wussten. Besonders mit Kant pflegte er regelmäßigen geistigen Austausch: „Prof. Kant aß gern bey mir, und mehr als einmal saßen wir von Mittags um 1 bis Abends 8 Uhr, nicht aber um des Leibes, sondern um der Seele zu pflegen.“
 Während seiner Königsberger Jahre schrieb Hippel eine ganze Reihe von Werken, die er anonym erscheinen ließ und die zum Teil eine beträchtliche Wirkung hatten: Gedichte, Theaterstücke, Abhandlungen und Romane. In den beiden Büchern „Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber“ und „Nachlaß über weibliche Bildung“ trat er mit großem Eifer als erster in Deutschland für die rechtliche Gleichstellung der Frau ein. Seine Schrift „Über Gesetzgebung und Staatenwohl“, gewissermaßen sein politisches Glaubensbekenntnis, nahm Grundsätze der Französischen Revolution vorweg.
 Von außerordentlicher Wirkung unter den Zeitgenossen waren seine beiden Romane „Lebensläufe nach aufsteigender Linie, nebst Beilagen A, B, C“ und „Kreuz- und Querzüge des Ritters A bis Z“. Mit ihnen wurde er zum Begründer des humoristischen Romans in Deutschland. Hippel löste in seinen Romanen den aufklärerischen Witz durch den vermittelnden, die Gegensätze spielerisch versöhnenden Humor ab. „Eigentlich beginnt hier schon jener geheimnisvolle Weg nach innen, den mit vollem Bewusstsein erst die romantische Generation beschritten hat“ (M. Greiner). In Hippels Erzählweise ist (ähnlich der des Engländers Lawrence Sterne) die Handlung unterbrochen und überwuchert durch ein Feuerwerk von Abschweifungen jeder Art: geistreichen Bemerkungen, satirischen Seitenhieben, gelehrten Mitteilungen und philosophischen Überlegungen. Hierin war Hippels Werk Vorbild für die Romane und Erzählungen Jean Pauls.
 Hippel war in seiner persönlichen Entwicklung von Gerdauen über Sankt Petersburg nach Königsberg zum Weltbürger geworden: „denn ein Autor ist ein Weltbürger, der über die Handbreit Land seines Vaterlandes hinweg ist, und es ist ein köstliches Ding, ein Weltbürger, ein Bürger der Stadt Gottes, ein eigentlicher Weltmann zu seyn.“ In seinen Romanen hingegen, besonders in den „Lebensläufen …“, Diesem voluminösen Werk von 2300 Seiten, kehrt Hippel nach Gerdauen zurück und beschreibt verschlüsselt wichtige Dinge seiner Kindheit und Jugend, trägt seinen Geburtsort in die zeitlose Sphäre des Geistes. Da erscheinen sein Elternhaus, verwandelt in ein Pfarrhaus, sein pietistischer Vater, seine sich mit Selbstvorwürfen quälende Mutter, seine literarische Erziehung, seine Buchspiele, seine Bekannten… Die geplante Fortsetzung des Romans mit den Lebensgeschichten des Gerdauener Vaters und des Löwensteiner Großvaters hat er leider nicht mehr schreiben können.
 Nach Hippels Tod am 23. April 1796 löste die Enthüllung seiner bisher verschwiegenen literarischen Autorschaft Erstaunen aus, das jahrelange erfolgreiche Aufrechterhalten seiner Maske befremdete selbst die, die ihn gekannt hatten. In seinem Nekrolog wird er „dieser räthselhafte Sphinx“ genannt. Er war bereits als eine eigenwillige Persönlichkeit bekannt, nun entdeckte man seinen ungeahnten, teilweise widersprüchlichen, verblüffenden Facettenreichtum. Der Schriftsteller Hippel hätte selbst eine Romanfigur sein können, eine Schöpfung des eine Generation jüngeren E.T.A. Hoffmann, eine der von diesem oft beschriebenen skurrilen Doppelnaturen: einerseits der pedantische, geizige Beamte, höchster Würdenträger der Stadt, andererseits der freigeistige, genialische Schriftsteller, der privat die Unordnung zum Prinzip erhoben hatte und eine kaum zu bewältigende Flut beschriebener Zettel hinterließ.
 Schauerlich war Hippels Verhältnis zum Tod. In Gerdauen hatte er als Kind die Eltern einmal gebeten, die Nacht in einem Zimmer mit der Leiche eines kurz vorher tot geborenen Bruders verbringen zu dürfen, was die Eltern tatsächlich gestatteten: „Hierauf hielt ich dem kleinen Todten auf eigne Hand eine Standrede, erbaute mich und feyerte seinen Tod durch einen sanften Schlaf.“ In Königsberg ließ Hippel eine Partie seines weitläufigen Gartens als Kirchhofsimitation gestalten mit Grabsteinen, Schädeln, Grabhügeln und Grabesblumen: In Steinplatten waren Gedichte und Sprüche gemeißelt, die daran erinnerten, dass der Tod alle irdischen Unterschiede tilgt. – So war es nur konsequent, dass Hippel auf eigenen Wunsch auf dem Königsberger Armenfriedhof beigesetzt wurde, obwohl er ein für damalige Zeit großes Vermögen von über 140.000 Talern hinterließ.

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