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In der Medina von Tétouan

(Auszüge aus der Erzählung)

Ja, es gab starke Schwingungen zwischen den Hauptfiguren des Romans und mir. Insbesondere zwischen Fatma und mir. Mit ihren Vibrationen war sie ein Instrument, das meine Ohren und Augen klingen ließ, seit ich sie zum ersten Mal sah.
Sie stand auf einem kleinen Platz in der Medina, den zwei sich kreuzende Gassen bildeten. Ich konnte sie nur von hinten sehen, wie sie mit jemandem sprach. Ihr Körper war dabei in leicht schwingender Bewegung, wie vom Zusammenspiel innerer Pendel. Ihre Hüften immer in fließender Gegenbewegung zu den Schultern. Die halblangen Wellen ihres schimmernden schwarzen Haares folgten mit Verzögerung den Bewegungen ihres Kopfes, die durch das ausgelöst waren, was sie gerade mit ihrem Gegenüber, einem jungen Mann, besprach. Dessen derbes Gesicht eines wilden Malers mit zu breiter Nase, zu großen Augen, dicken Lippen und vollem wirren Haar, das wie Bündel schwarzen Strohs aussah, – dessen Gesicht zeigte in seinem wechselnden Ausdruck alles das, was die junge Frau erzählte.
Mal verfinsterte sich seine Miene, mal leuchtete sie langsam auf, lächelte oder fragte, mal beglückwünschten seine Augen, mal bemitleideten oder verachteten sie, während seine Augenbrauen jeden Ausdruck verstärkten oder kontrapunktierten. Ich hätte die Frau lieben können allein für die Fähigkeit, so viele Emotionen in ein anderes Gesicht zu zaubern.
Ich hielt die Ungewissheit nicht aus, wie diese Frau aussehen mochte, und wollte nicht länger in das Gesicht des grobschlächtigen Jünglings schauen.
Also ging ich den Weg, den ich gekommen war, zurück. Bog in eine Seitengasse, dann in eine weitere. So musste ich aus anderer Richtung auf den kleinen Platz kommen, auf dem sie stand.
Als ich um eine Mauerecke bog, hörte ich plötzlich den Hall ihrer Stimme, eine dunkle tönende Fülle von ungezwungener Heiterkeit. Offensichtlich sprach sie in Richtung meiner Gasse und diese wurde zu ihrem Klangraum und ich ihr heimlicher Hörer. Wir lauschen, wie wir manchmal hoffen, belauscht zu werden. Da hier die Gasse, wie viele in der Medina, von Häusern überbaut ist, füllte sie sich plötzlich mit singendem, surrendem Klang, dann einem kurzen gurrenden Lachen und neuem summendem Klang. Wände und Decke mit ihrem gekalkten Verputz hallten wider vom Wohllaut dieser Frauenstimme und mich überliefen Schauer.
Nach einer weiteren Biegung stand sie da, für meine Augen zum Greifen nah und doch weit genug, so dass sie mich nicht wahrnahm.
Ihr Gesicht überraschte mich. Kein filigranes Elfenantlitz. Sondern Ausdruckskraft und Ebenmaß, ein Bühnengesicht. Dunkle kräftige Konturen auf hell schimmerndem Grund mit Augenbrauen wie breite Mondsicheln über großen, fast schwarzen Augen und einem Stirn-Nase-Profil wie bei einem Athenekopf. Ihre vollen Lippen waren mehr braun als rot und das ausgeprägte Kinn wie zwei Mandelhälften geformt.
Alles, was bei ihrem Gesprächspartner grob erschien, war bei ihr edel, harmonisch und ausdrucksvoll. Eine schwarze Rose in zwei Teilen: sie die reine Blüte, er der Stiel mit Dornen, den man nicht anfassen mochte. So ergänzten sie sich. So schienen sie zusammenzugehören.
Plötzlich ein Auflachen von ihr, heftiger aus ihren Augen als aus ihrem Mund. Sie küsste den jungen Mann, dem das Lachen gegolten hatte, kurz auf den Mund und danach endlos, wie mir schien, auf die Wange, dann hakte sie sich in seinen Arm ein und beide verschwanden in der Gasse, in der ich vorher gestanden hatte.
Tief getroffen blieb ich zurück, drückte meinen Rücken gegen die kalte Wand, um zu spüren, dass dies alles wirklich war, und genoss in nachlassenden Schauern, was ich gehört und gesehen und was die beiden zum Schluss getan hatten. Das Verlangen, die Nähe dieser Frau und ihre Lippen zu spüren, erfüllte mich ebenso stark wie der Widerwille gegen den jungen Mann, dem beides so selbstverständlich gewährt wurde.
Sie und er waren so ungezwungen, so spontan, so genussvoll, wie ich es nie gewesen war. Aber hatte sein wollen, als ich so alt war wie sie. Halb so alt wie heute.

*

Wir gingen ins weiße Labyrinth der Medina, mitten in das undurchschaubare Geflecht von Gassen und Gängen, das, wie ich heute weiß, den monströsen Gehirnwindungen eines Wahnsinnigen folgt. In eine Art Künstlerhaus. Maler, Musiker, Schreiberlinge und ein Videobastler. Zwei gewundene Treppen, breite und schmale Flure, überraschende Stufen hinter fast jeder Ecke und viele Fenster zu den Wohnungen, zum Treppenhaus und wahrscheinlich auch zwischen den Zimmern: Wände mit Ohren.

*

Ismael war mir schon einige Zeit durch die Gassen der Medina gefolgt und ich tat, als merkte ich es nicht. In dem für mich unergründlichen Labyrinth nahm er irgendwann eine Abkürzung und kam mir dann wie zufällig entgegen. Er trug eine helle Djellaba, einen Berbermantel, der ihn gut kleidete, weil er sein Aussehen eines groben Klotzes verbarg.
Ismael grüßte, zeigte mir seine Freude und ich tat es ebenso, nur übertriebener. Ich sprach von meinen dringenden Erledigungen, tat hilflos. Er sprach von seiner knappen Zeit und schenkte mir dann davon ein übergroßes Stück, indem er mir dahin folgte, wo ich etwas zu erledigen hatte. Und mich danach mitnahm zu den Plätzen, wo die Medina ihren eigenartigsten Reiz hat. Ein Café mit den Möbeln eines abgebrochenen Stadtpalais. Eine berberische Händlerin von duftenden Ölen und Kräutern. Einen Laden mit filigranen Lampen, deren buntes Glas ein sinnverwirrendes Licht über Wände und Möbel goss. Dabei stieß er mehrere der Lampen mit der Hand an, so dass ich vom Tanzen der farbigen Lichtpunkte in einen taumelnden Rausch geriet. Und als ich über eine Stufe stolperte, fing er mich in seinen Armen auf und ich ruhte in ihnen wie ein Trunkener, dem die Beine den Dienst versagen. Heiter war ich, noch heiterer war er. Seine Djellaba verströmte einen tiefgründigen Vetiverduft, den ich im Laden der Öle und Kräuter nicht gerochen hatte, frisch und würzig. Die langsame Trennung von seinem Duft war wie ein Riss. Und mein Wunsch, ihn wieder zu riechen, war groß. Das zeigte ich ihm.

Die vollständige Erzählung finden Sie unter dem Titel
„Stimmen und Schritte in der Medina“ in der Anthologie „Sinne“ (Hrsg. Jörg Liemann).

Sinne
(Hrsg. Jörg Liemann)

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